Rechtswidrige Polizeigewalt: Einzelphänomen oder nationales Problem. Eine Debatte.
Verfasst von Maria Panagiotidou am
Am 07.01.2005 verbrannte Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau. Amad A. verstarb am 29.09.2018 auf dieselbe Art und Weise in Kleve. Er saß wegen einer Verwechslung im Gefängnis. Beide Fällen bleiben bis heute ungeklärt, die Ermittlungen wurden eingestellt. Die Polizei spricht in beiden Fällen von Suizid, trotz der zahlreichen Indizien, die das Gegenteil vermuten lassen. „Vor 15 Jahren von deutschen Polizisten ermordet und verbrannt“, heißt es auf dem Mobilisierungsplakat „Oury Jalloh – Das war Mord!“ Auch 15 Jahre später löst der Fall nationales Entrüsten aus und bewegt die Menschen am 07.01.2020 auf die Straße. Ihnen geht es um rechtswidrige Polizeigewalt und unverhältnismäßige Gewaltanwendung an Zivilist*innen. Die Initiative „Break the Silence“ fordert die Aufklärung des Falles in Dessau und gedenkt weiteren Opfern staatlicher Polizeigewalt. Oury Jalloh wird zur Symbolfigur. Rechtswidrige Polizeigewalt hat viele Gesichter. In vielen Fällen hinterlässt sie körperliche und seelische Wunden bei den Opfern.
Ca. 91 Prozent der Verfahren gegen Polizist*innen werden eingestellt
Der Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum beschäftigt sich mit der Problematik und befragt in einer aktuellen Online-Studie Opfer gesetzeswidriger Polizeigewalt. Über 3.300 Berichte bezeugen die Gewalterfahrungen, die die Opfer erlebt haben. Auch wenn die Studie nicht repräsentativ ist, lassen sich Schlussfolgerungen für die Gesamtsituation ziehen. In etwa 86 Prozent der berichteten Vorfälle wurde mangels hinreichenden Tatverdachts kein Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen durchgeführt. 70 Prozent der Befragten berichteten von leichten bis schweren körperlichen Verletzungen. Dabei geht es um unverhältnismäßige Gewaltanwendungen. Bagatellen, wie im Reflex den Arm eines Polizisten weg zuschlagen oder sich gegen einen Polizeigriff zu wehren, führen in den meisten Fällen zu Gegengewalt oder drei Monate Haft, auch wenn den Polizeibeamt*innen nichts passiert. Verfahren gegen Polizist*innen werden in 91 Prozent der Fälle eingestellt. Nur rund zwei Prozent enden mit einer Anklage oder einem Strafbefehl. Fakt ist: In Deutschland existiert keine unabhängige Beschwerdestelle, die das Fehlverhalten der Polizei meldet.
38.109 verübte Gewalttaten gegen Polizist*innen - Stand 2018
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk stellt Andreas Grün, Vorsitzender des hessischen Landesverbandes der Gewerkschaft der Polizei (GdP) fest: Rechtswidrige Polizeigewalt gibt es. Statistiken, wie jene der Universität Bochum, empfindet er jedoch als voreingenommen und überspitzt. Laut Grün habe die Polizei das staatliche Gewaltmonopol inne.
„Wenn sie in Ausübung ihres Dienstes körperliche Gewalt […] anlegen muss, um eine Maßnahme durchzusetzen, dann ist das rechtmäßig.“In dem Moment, wo die Staatsanwaltschaft die Rechtmäßigkeit einer Festnahme feststellt, gilt dies auch für den Einsatz körperlicher Gewalt. Er verweist zudem auf die brenzlige Lage von Polizeibeamt*innen, die vermehrt Gewalt ausgesetzt sind. Diesen Zustand könne man nur über den unmittelbaren Zwang – der körperlichen Gewalt – in den Griff bekommen. 2018 richteten sich in Deutschland 38.109 Gewalttaten gegen Polizeibeamt*innen. Dies ergab eine Statistik des Bundeskriminalamtes. 2017 beschloss der Bundestag, nach langjährigen Forderungen von Polizeigewerkschaften und Landesinnenministern, Angriffe gegen Polizeibeamt*innen härter zu bestrafen. Sie halten den Schutz von Beamt*innen für ein hohes Gut. Aktive Handlungen gegen die Körper der Polizist*innen führen zu mindestens drei Monaten Haft.
Eine Frage des Vertrauens
Die Zivilbevölkerung und Polizeibeamt*innen vor willkürlicher Gewalt umfassend zu schützen, ist ein Grundrecht, das durch die Politik gewährleistet werden muss. Das Vertrauen in die Polizei beherbergt jedoch ein ungeahntes Potential rechtswidriger Gewalt gegen Unschuldige, und auch Täter*innen. Dieses Vertrauen hinterlässt ein Machtvakuum, das rechts- und linksextremes Handeln der Polizeibeamt*innen möglich macht und es in fast allen Fällen schützt. Ob Oury Jalloh oder Amad A. durch die Hände von Polizist*innen starben, bleibt ungeklärt. Wenn dies aber der Fall sein sollte, müsste man grundlegend über das Vertrauen höherer Staatsgewalten in die Polizei diskutieren.