Storyteller | Prokrastination
Verfasst von Jakob Elias Becker am
Das Dokument habe ich schon vor einigen Tagen angelegt. Zuerst habe ich mir einen Titel ausgedacht. Dann alles sicherheitshalber schon mal abgespeichert. Als Erinnerung, damit ich endlich einmal rechtzeitig fertig bin und pünktlich abgeben kann.
Dann habe ich erstmal fünf Tage lang nichts gemacht.
Plötzlich ist der Tag der Abgabefrist da. Es ist schon Nachmittag. Die Frist rückt näher. Die Zeit den Artikel pünktlich abzugeben wird knapp. Deshalb habe mir vorgenommen endlich den Artikel zu fertig zu schreiben, nein, ich muss den Artikel schreiben.
Ich hocke an meinem Schreibtisch und fühle mich provoziert von dem leeren Dokument, wie es da geöffnet vor mir liegt, inhaltslos, weiß und leer. Der innere Schweinehund, ich glaube er hat mich wieder erwischt.
Das Dokument hält mir meine eigene Unzulänglichkeit vor, spiegelt sie, lässt mich resignieren. Keinerlei Motivationsschub. Ich sitze ich vor dem Computer und merke, dass der verdammte Hund (oder sagt man das Schwein?) mich komplett in seiner Hand hat, bin unfähig mich zu regen.
Mir kommt der Gedanke auf, dass ich vielleicht ja nie wirklich Kontrolle über meinen Körper hatte. Habe ich mich eigentlich jemals wirklich bewegt, bekanntlich können Erinnerung ja auch trügen. Vielleicht hat mein Körper, aus Stress, verlernt wie das geht, sich zu Bewegen. Vielleicht sitze ich schon seit Jahren vor diesem leeren Dokument. Panisch überlege ich eine Mail zu schreiben:
Hallo,
tut mir total leid, dass heute leider nichts von mir kam
Ich habe leider spontan bemerkt, dass mein freier Wille eine Illusion war.
Daraufhin verlor ich leider auch sämtliche Kontrolle über meine Motorik,
weshalb ich leider keinen Artikel mehr schreiben konnte.
Viele Grüße
Meine Nase juckt, ich kratze mich.
Scheiße, scheinbar bin ich doch nicht bewegungsunfähig.
Das leere Dokument habe ich mittlerweile vor einer halben Stunde geöffnet.
Spoiler alert - es ist immer noch leer.
Kurz überlege ich die Überschrift noch einmal zu schreiben, doch entscheide mich, nach einigem Ringen mit mir selbst, letztendlich dagegen. Ich glotze wieder in das helle weiß des geöffneten Fensters, meine Augen werden langsam trocken und tun weh, weshalb ich den Blick vom Bildschirm abwende.
Mein Schreibtisch beginnt unglaublich interessant zu werden, unabdinglich fesselt er meine Aufmerksamkeit.
Wann habe ich denn eigentlich das letzte mal aufgeräumt und wo ist eigentlich der Deckel von dem Edding der dort hinten liegt ?
Ich überlege ob die Lösungsmittel des offenen Eddings mich halluzinieren lassen haben und der Artikel in der Wirklichkeit schon längst fertig geschrieben ist. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass das Dokument nicht mehr ganz so leer scheint, wie noch zuvor, es scheint sich irgendwie zu bewegen.
Ich stehe auf und öffne mein Fenster, sicherheitshalber. Werfe einen Blick auf das Dokument, es ist nach wie vor komplett leer und ich verwerfe den Gedanken.
Durch den plötzlichen Energieschub, den mir das Aufstehen gegeben hat, entschließe mich, komplett freiwillig, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Der Artikel kann noch warten. Erst sortiere ich all meine Stifte nach Farbe, um sie dann doch wahllos zusammenzuschmeißen. Ich ordne die Bücher nach Größe und widme mich den Türmen von Massen an lose herumfliegenden Zetteln.
Mein Schreibtisch, schon fast so weit aufgeräumt, dass ich vereinzelt sogar wieder die Tischoberfläche sehen kann. Schön eigentlich, Ordnung, habe ich lange nicht mehr gehabt.
Ich gucke auf die Uhr, 10 Minuten noch, um den Artikel zu schreiben. Fuck!
Ich setze mich hin, öffne meinen Browser und beginne zu recherchieren, schreibe den Artikel und gebe ihn ab (zu spät versteht sich).
Ich sinke erleichtert in mich zusammen.
Warum mache ich mir eigentlich immer soviel Arbeit?
Nächste Woche schreibe ich einfach einen Artikel über Prokrastination, vielleicht klappt das ja besser.