Glühbirne I Meine politisch inkorrekten Kindheitshelden
Verfasst von Katharina Saga am
Heute
vor 73 Jahren erschien mit Pippi Langstrumpf der erste Roman
von Astrid Lindgren. Die Geschichte über das schier unglaublich
starke Mädchen avancierte schnell zum absoluten Klassiker der
Jugendliteratur und wurde auch außerhalb Schwedens das Lieblingsbuch
unzähliger Kinder. Pippi ist stark, schlau, witzig – und die
Tochter eines, wie sie selbst sagt, „N****königs“. Total
rassistisch. Wie gehen wir mit veralteten Denkmustern und politisch
inkorrekten Begriffen in unseren liebsten Kinderbüchern um?
Ärger
im „Taka-Tuka-Land“
Beim Lesen Pippi Langstrumpfs unglaublicher Abenteuer hat mich stets eine Mischung aus Bewunderung, Unruhe und unterschwelliger Trauer begleitet. Ihre Mutter war tot, und trotzdem eierte ihr edler Vater lieber im „Taka-Tuka-Land“ umher, anstatt abends seiner kleinen Tochter vorzulesen. Als amtliche siebenjährige Spaßbremse war ich empört, dass die dezent analphabetische Pippi immer auf sich allein gestellt war, und das anscheinend auch noch toll fand. Das "N-Wort" war mein kleinstes Problem. Ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Völlig klar, dass man das heute nicht mehr sagt (ich war außerdem ein Klugscheißer). Der Disclaimer meines Pippi-Langstrumpf-Hörbuchs verwies ebenfalls darauf, es heiße heutzutage „Schwarze“. Na also, alles geregelt. Oder?
Alles
gar nicht so gemeint?
Die Debatten der vergangenen Jahre zeigen: So einfach ist es eben nicht. Schon seit den 1970ern existieren Rassismusvorwürfe gegen den schwedischen Kinderbuchklassiker. Buchverlage wie Oetinger oder der schwedische Fernsehsender SVT haben schon vor einigen Jahren Begriffe wie „N****“ oder diskriminierende Filmszenen gestrichen. 2013 verkündete die damalige Familienministerin Kristina Schröder, ihren Kindern entsprechende Passagen bewusst nicht vorzulesen – und löste damit Diskussionen aus. O-Ton: Das sei ja gar nicht rassistisch gemeint, damals war das ganz normal, die Streichung und Anpassung der Sprache gliche Zensur. Auch Lindgren hatte zu Lebzeiten eine Bearbeitung ihrer Bücher untersagt. Zahlreiche Kinderbücher sind durch „koloniale Altlasten“ und politisch inkorrekte Begriffe somit in die Kritik geraten, darunter Ottfried Preußlers „Die kleine Hexe“ und Michael Endes „Jim Knopf“. Über die Frage, wo literarische Freiheit und veralteter Sprachgebrauch aufhören und diskriminierende Denkmuster beginnen, wird bis heute gestritten.
„Das
ist die Geschichte von Kolonialismus“
Die Autorin Sharon Dodua Otoo sieht das Rassissmusproblem nicht nur in unpassenden Bezeichnungen für schwarzen Menschen, sondern noch viel tiefer verankert. Entscheidend sei nicht das „N-Wort“, sondern viel mehr „dass Pippis Vater irgendwo hinsegelt und sagt „Ich bin jetzt König“, das ist kurz gesagt die Geschichte von Kolonialismus.“ Otoo plädiert für einen Diskurs ohne rassistische Begriffe und spricht sich für eine kontinuierliche Bearbeitung beleidigender Passagen aus - mit Zensur oder der Beschränkung künstlerischer Freiheit habe das nichts zu tun.
Die Kritik leuchtet ein und macht zugleich ratlos. Denn die bloße Streichung rassistischer Begriffe genügt nicht, wenn das ganze Erzählmuster diskriminiert. Der Grad zwischen üblen Beleidigungen und weniger gravierenden problematischen Inhalten scheint schmal.
Mutig
oder mädchenhaft
Noch
komplizierter wird es beim Thema Sexismus in der Jugendliteratur.
Selbst in Neuerscheinungen wimmelt es von stereotypen Rollenbildern à
la weibliche Randfiguren als mütterliche Heimchen und männliche
Protagonisten als unerschrockene Abenteurer. Dagegen ist Lindgrens
Hauptfigur Pippi Langstrumpf übrigens ziemlich
fortschrittlich.
Ganze Generationen an Frauen sind aufgewachsen
mit Enid Blytons „Fünf Freunden“. Während die außerordentlich
hübsche Anne wenig relevantes zur Handlung beitrug, scheute George
kein Abenteuer. Doch um Autorität in der Gruppe zu haben, musste sie
so wenig mädchenhaft wie möglich sein. Die Message: Frauen müssen
sich entscheiden – begehrt oder respektiert werden. Beides geht
nicht. Auch Blytons Romane wurden seit den 80er Jahren hinsichtlich
diskriminierender Passagen gegenüber Schwarzen und Frauen mehrfach
korrigiert. Es hagelte harsche Kritik. Noch 2006 schrieb ein
Kolumnist in „Die Welt“, Political Correctness verletze „die
historische Gestalt eines literarischen Originals“ - der restliche
Artikel bleibt weit weniger höflich. Stellen sich bloß alle zu sehr
an? Ist nicht mal Kunst vor Political Correctness sicher?
Die
jahrelangen Debatten über die (Roman)welten unserer Kindheitshelden
zeigen: Wir brauchen den Diskurs über literarische Sprache – denn
deren Bedeutung für unser Handeln und Denken wird nach wie vor
unterschätzt. Es hilft nichts, sprachliche Diskriminierung als
vergangene Missetat abzutun, wenn Wörter wie „N****“ gerade
heute stärker beleidigend empfunden werden als früher –
unabhängig davon, ob das intendiert war oder nicht. Die Verletzung
künstlerischer Freiheit über die Würde von Menschen zu stellen ist
zynisch.
Und dennoch scheinen wir nicht alle vergangenen literarischen Ungerechtigkeiten tilgen zu können – aus den Fünf Freunden wird wohl kein feministisches Manifest mehr. Muss es auch nicht. Aber Rollenklischees und Stereotype ziehen einen langen Schatten nach sich, der sich bis in die Neuerscheinungen hineinschleicht und uns alle beeinflusst. Wer das erkannt hat, kann neue Kindheitshelden erschaffen. Und die alten trotzdem mögen.