Frühstückslektüre I Ein Handschuh für mehr Inklusion
Verfasst von Katharina Saga am
Der diesjährige Kölner Designpreis geht an einen Handschuh.
Ok, cool. Die Meldung könnte an dieser Stelle beendet sein, wenn nicht hinter
dem preisgekrönten Accessoire ein Konzept zur Inklusion sehbehinderter und
blinder Menschen stecken würde. „Unfolding Spaces“ heißt die Abschlussarbeit
des Design-Absolventen Jakob Kilian. Der von ihm entworfene Handschuh kann
mithilfe einer eingebauten Kamera „sehen“ und gibt die Bildinformationen in
Form von Vibration an die Träger*innen weiter. Dabei geht es nicht nur darum,
Orientierungshilfe zu leisten – sondern auch um Selbstbestimmung und
Entscheidungsfreiheit.
Zwischen Sci-Fi und Google-Gadget
Dass Handschuhe nicht nur als winterliches Kleidungsstück dienen können, ist zunächst keine neue Erkenntnis. Schon 2002 fuchtelte Tom Cruise im Film „Minority Report“ wild mit den Händen umher und bediente so riesige Bildschirme und technische Gerätschaften. Neben Filmproduzent*innen interessiert sich bekannterweise auch Google für vermeintliche Science-Fiction-Ideen. Der Konzern hat sich 2011 die Rechte an der Technik der sog. „Smart Gloves“ gesichert. Integrierte Sensoren zeichnen die räumliche Umgebung auf, verzeichnen die Bewegungen der Hände und setzen beides in ein Verhältnis. Die Handschuhe funktionieren damit wie Controller, die durch menschliche Gesten gesteuert werden. So können beispielsweise Bilder raus- oder rangezoomt werden. Touchscreens würden zumindest theoretisch obsolet.
Sensorische Subsitution und Interaction Design
Das Ziel von Jakob Kilians Bachelorarbeit war es vermutlich nicht, Hollywood
oder den Silicon Valley zu beeindrucken. Das Projekt des Absolventen der Köln
International School of Design (KISD) lässt sich unter den Begriff des
Interaktionsdesigns einordnen. Jakob Kilians Projekt „Unfolding Space“ arbeitet
mit „Sensorischer Substitution“: Die sensorische Fähigkeit, zu sehen, wird mit
einem anderen Reiz ersetzt. Die unterschiedlich starke Vibration an
verschiedenen Stellen des Handschuhs kann somit helfen, Personen, Gegenstände
und Hindernisse zu lokalisieren. Innovativ ist die Erfindung des Studenten vor
allem deswegen, weil er die Sensorische Substitution als einer der Ersten zur
Unterstützung sehgeschwächter Personen anwendet – obwohl die Technik seit über
50 Jahren erforscht wird.
Selbstbestimmte Inklusion
Und noch etwas macht den „sehenden“ Handschuh besonders: Die Benutzer*innen können ihn auch nicht tragen, indem sie ihn einfach wieder ausziehen. Das scheint banal. Doch oft fehlt die Entscheidungsfreiheit bei der Verwendung kompensatorischer Maßnahmen für Blinde und Gehörlose. Ein bekanntes Beispiel ist das Cochlea-Implantat, eine Prothese, die in die Schädeldecke eingesetzt wird und durch die Gehörlose wieder akustische Signale wahrnehmen können. Was nach einer erlösenden Rettung klingt, empfinden einige Verwender*innen als störend: Die Rede ist von Tinnitus und starken Störgeräuschen. Kritiker*innen berichten darüber hinaus, dass solche Implantate nicht immer zur Inklusion, sondern vor allem zur gesellschaftlichen Anpassung eingesetzt werden – obwohl sie medizinisch nicht notwendig sind. Dabei sehen viele ihre Gehörlosigkeit nicht als Beeinträchtigung an, die man beheben müsste. Jakob Kilians Handschuh ist ein Hilfsmittel, bei dem Sehgeschwächte über die Verwendung frei entscheiden können – und Inklusion so aktiv nach ihrer Präferenz mitgestalten.
Design=teuer?
„Unfolding Space“ unterscheidet sich auch im Preis von pompösen Sci-Fi-Blockbustern und brandneuen Google-Produkten. Für die Produktion des Handschuhs sind derzeit weniger als 100 Euro pro Stück angesetzt – was im Vergleich zu anderen Devices enorm günstig ist. Jakob Kilians Ziel ist es, die Erfindung so zugänglich wie möglich zu machen. Außerdem ist der Handschuh ein Open-Source-Projekt: Code und Lizenz des Produkts sind veröffentlicht und können somit legal von anderen Entwickler*innen oder Firmen weiterbearbeitet werden. Statt mit dem Handschuh ein kommerzielles Interesse zu verfolgen, will Jakob Kilian die Entwicklung ähnlicher Projekte inspirieren und vorantreiben – und damit Inklusion neu denken.