Frühstückslektüre | Studieren aus der Sicht eines Arbeiterkindes
Verfasst von Stephan Senger amStudieren, obwohl es vorher noch keiner in der Familie gewagt hat. Diese Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Vielleicht geht es dem einen oder anderen genau wie mir: Mir fehlte in der Familie ein Vorbild, an dem ich mich orientieren kann. Fehlende Vorbilder führen oft zu fehlender Unterstützung. Arbeiterkinder studieren heute immer noch weniger häufig als Akademikerkinder. Muss das so sein? Ein Erfahrungsbericht.
Neulich am WG-Frühstückstisch: Mir gegenüber mein Mitbewohner Timm. „Manchmal kommt es mir echt so vor, als leben wir in zwei Welten“, sage ich. Wir reden gerade über „Unikram“, Lernerfolgskontrollen, Präsentationen, Unikram eben. Er studiert irgendwas mit BWL, ich irgendwas mit Medien. „Zwei Welten? Wie meinst du das?“, fragt er. „Naja, es gibt für mich die Uni, und dann gibt es noch mein zu Hause, meine Mama und meine Schwestern. Die Welten sind sich untereinander völlig fremd, aber ich muss mich in beiden zurechtfinden“. Ich sehe Timm an, dass die Ansicht für ihn schwer nachvollziehbar ist. Wir sind beide kurz vor dem Masterabschluss und haben die Funktionsweise des Systems „Uni“ mittlerweile durchblickt. Der Unterschied ist: Seine Eltern haben studiert. Ich bin das, was man klassisch als Arbeiterkind bezeichnet – eben jemand, dessen Eltern nicht studiert haben.
Eine Studie des Deutschen Hochschul- und Wissenschaftszentrums (DZHW) aus dem Mai dieses Jahres zeigt, dass die Aufstiegschancen auch heute noch erheblich vom Bildungsstand der Eltern abhängen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage: Wer schafft es in Deutschland wie weit im Bildungssystem? Bei der Studie kam heraus, dass von 100 Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien nur 27 ein Studium beginnen. Haben die Eltern einen Hochschulabschluss, dann sind es 79 Kinder. Die Chance auf Bildung variiert maßgeblich mit der sozialen Herkunft. Auch ich fühle mich an der Universität zumindest in der Unterzahl.
Warum ist das so? In meiner Familie war mein verstorbener Vater Automobilkaufmann, meine Mutter ist Bürokauffrau. Beide kommen aus ländlichen Gegenden, in denen in der näheren Umgebung kein Uni gab. Beide haben die Mittlere Reife als Schulabschluss und sind ziemlich schnell ins Berufsleben eingestiegen, waren also früh eigenständig. Als ich später auf das Gymnasium gegangen bin, tat ich das in erster Linie, um auf die gleiche Schule wie meine Freunde aus der Grundschule gehen zu können. Meine beiden Schwestern sind eher praktisch orientiert, haben kein Abitur und waren auch nicht an der Uni. Das ist nicht schlimm, meine jüngere Schwester verdient gerade als Hotelfachfrau um ein Vielfaches mehr Geld als ich mit Bafög und einem Werkstudentenjob zusammen. Das kann in manchen Situationen unangenehm sein.
Die Zeit nach dem Abitur
Doch als es nach meinem Abitur darum ging, was ich später damit anfangen wolle, da hieß es in meiner Familie: Mach doch erstmal eine Ausbildung, dann hast du was Richtiges. Als ob die Uni was Falsches wäre! Das ist nicht böse von meiner Familie gemeint, aber an solchen Einstellungen zeigt sich die Trennung in zwei Welten: Meine Mama weiß gar nicht genau, was man an einer Uni überhaupt macht. Die Uni kostet erstmal Zeit und Geld. Das wiederum sieht und weiß meine Mutter sehr genau. Ich entschied mich also für die Ausbildung und fing danach erst an zu studieren.
Ich bin sehr froh, dass ich, bei der Entscheidung zu Studieren, von zu Hause aus immer unterstützt wurde – ganz im Gegenteil zu anderen Arbeiterkindern, die ich an der Universität kennenlernen durfte. Meine beste Freundin beispielsweise steht im ständigen Konflikt mit ihren Eltern, nun endlich erwachsen zu sein und eigenes Geld verdienen zu können. Dabei reist sie nicht übermäßig viel, verdient ihren eigenen Lebensunterhalt neben der Uni und bekommt so gut wie kein Geld von zu Hause. Ihre Eltern müssen sie also kaum unterstützen. Auch Familienmitglieder meiner Familie belächeln mich dafür, dass ich immer noch studiere. Ich kann vermuten, wie manche von ihnen wohl denken: Ich würde mich für etwas Besseres halten. Studenten sind nur am Feiern, sind faul und schlafen bis 14 Uhr. Dieses Bild entspricht schon lange nicht mehr der Realität, jeder Student weiß das – meine Familie aber nicht. Man wird in Arbeiterfamilien einfach seltener zum Studieren motiviert. Hätte ich nach der Ausbildung weiter in dem Verlag gearbeitet, in dem ich meine Ausbildung gemacht habe, dann wäre das Ok gewesen. Oder anders gesagt: Die Entscheidung wäre nicht hinterfragt worden, weil die Option zu studieren nicht präsent ist.
Das Gefühl an der Uni
Wie fühlt man sich als Arbeiterkind an der Uni? Das muss ich wieder aus zwei Perspektiven beschreiben – der Familiären und der Universitätsinternen. Ich hatte an der Universität in Mainz ein Seminar in Politikwissenschaft, indem der Dozent folgenden Satz äußerte: „Ich kann jemandem ansehen, ob er aus einer Akademiker- oder Arbeiterfamilie kommt!“ Ist das so? Woran will er das festmachen? Schließlich sitzen knapp 30 junge, in ihrem Selbstverständnis individuelle, Menschen vor ihm. Gibt es da diesen Riss zwischen uns und fühlt man sich deswegen manchmal ein kleines bisschen fremd? Das machte mich unsicher. Unsicherheit war generell ein Begleiter meiner ersten Uni-Semester. Was ist ein Tutorium und was genau unterscheidet es von einem Propädeutikum? Warum redet jeder von der italienischen Stadt Bologna? Das Milieu war eine komplett neue Welt für mich und ich hatte niemanden, den ich solche Dinge fragen konnte. Ich hatte das Gefühl, dass Akademikerkinder solche Hürden selbstsicherer meisterten oder generell einfach mehr über die Uni wussten. Viele wussten bereits, was von ihnen verlangt wird und wie sie sich verhalten müssen.
Zu Hause wiederum fühlte ich mich auch fremd. Zunächst mal die Hard Facts, die das Studieren als Arbeiterkind von familiärer Seite mit sich brachte: Ein Nebenjob ist keine Option, um seinen Lebenslauf aufzupolieren, sondern schlichtweg eine Pflicht. Viele meiner Kommilitonen konnten sich das aussuchen, bekamen teilweise 800 Euro ohne Gegenleistung von den Eltern überwiesen. Ich musste die Miete und laufende Kosten immer mit Bafög und Nebenjob deckeln, womit wir beim zweiten Hard Fact wären: Die Regelstudienzeit ist ebenso Pflicht, ein „Gap Year“ so gut wie kaum realisierbar. Halte ich die Regelstudienzeit nicht ein, dann gibt es kein Bafög mehr und ich muss noch mehr arbeiten, womit ich dann wiederum weniger Zeit für die Uni habe. Das Ganze ist ein Kreislauf, viele meiner Kommilitonen haben das nicht verstanden.
Die Unterschiede zeigen sich auch an vermeintlich unerheblichen Kleinigkeiten, beispielsweise bei der häuslichen Lektüre. Statt der Biografie Helmut Kohls gibt es bei meiner Mutter eher seichte Belletristik, wenn überhaupt gelesen wird. Folglich hat niemand zu Hause je meine Hausarbeit Korrektur gelesen, weil sich fachlich niemand auskannte und ich auch mit einem Schlag der vermeintlich Intellektuellste der Familie geworden bin. Klar eckt man manchmal zu Hause an, wenn ich sie für ihre „politisch und gesellschaftlich fragwürdigen Stammtischparolen“ kritisierte. Gleichzeitig sollte ich nicht so „hochgestochen quatschen“. Allgemein rede ich zu Hause wirklich anders als im Umfeld meiner Kommilitonen.
Die Erfahrungen wurden mit der Zeit aber besser und ich lernte, mich in beiden „Welten“ irgendwie zurecht zu finden. Ich kämpfe immer noch damit, meinem Umfeld zu vermitteln, dass Studieren am Ende mehr bedeutet als eine finanzielle Investition für einen Abschluss in der Tasche. Es geht um individuelles Reifen, die Erweiterung des persönlichen Horizontes oder das Erlangen einer gesellschaftskritischen Haltung. Trotz stundenlangen, oft sinnlos erscheinenden Bib-Sessions ist Studieren ein Privileg, welches ich zu schätzen weiß. Vielleicht habe ich die Studienzeit und die damit verbundenen Freiheiten deswegen gefühlt intensiver genutzt und erlebt als andere. So finanziell prekär die Zeit zu Beginn meines Studiums erschien, möchte ich die Zeit niemals missen wollen. Ich finde, es sollten sich mehr Arbeiterkinder auf das „Abenteuer Studium“ einlassen.