Glühbirne | Ein Angsthase geht auf Heldenreise im Kajak
Verfasst von Mariam Misakian am
Unsere Generation ist nicht unbedingt für ihre Risikobereitschaft bekannt. Ohne Handy gehen wir nicht mehr aus dem Haus und überhaupt wagen wir viel zu selten was. Gerade deshalb ist es so wichtig, den Angstmodus hin und wieder auf „Stumm“ zu schalten. Auf einer Kajakexpedition habe ich erfahren, wie das einen anderen Menschen aus mir gemacht hat.
Wisst ihr noch, früher, als wir alle dachten, Erwachsene haben keine Angst? Tja, die Zeiten sind vorbei. Jetzt, wo wir selbst erwachsen sind, wissen wir, die haben nur so getan. Wir alle haben, häufig durchaus berechtigt, irgendwelche Ängste. Kein Wunder: Dank medialer Schreckensflut werden wir ständig und überall daran erinnert, dass ein Massenmörder oder der 3. Weltkrieg jederzeit um die Ecke lauern könnte. Dann ist es ein bisschen so, als wenn es da draußen wirklich einen fiesen Clown namens „Pennywise“ gibt, der von deinen Ängsten zehrt. Im vorletzten Sommer habe ich aber meinem „Pennywise" erfolgreich die Stirn geboten und dabei das Abenteuer meines Lebens erlebt.
Es begann alles mit der Frage: „Kommt ihr mit auf eine Kajakexpedition? Wir wollen in 3 Tagen um die Insel paddeln“. Bei der „Insel“ handelte es sich um die Isle of Man, eine kleine grüne Insel in der Irischen See, auf der ich mit meinem Mann für ein Semester Freiwilligenarbeit leistete. Wie klein die Insel auch sein mag - 140 Kilometer Küstenlinie paddeln Anfänger dennoch nicht mal eben so einfach. Meine bessere Hälfte war gleich aus dem Häuschen und hätte sich am liebsten sofort ins Kajak gesetzt. Ich hingegen habe ein „Ja“ als Antwort auf dieser Frage gar nicht erst in Erwägung gezogen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt erst ein einziges Mal in einem Kajak gesessen und die Bilanz war: Ich fahre nur Zickzack-Linien und kentere alle paar Minuten. Das konnte also nur eine Katastrophe werden.
In meinem Kopf ging ich bereits die schlimmsten Todesursachen durch. Was ist, wenn ich es aus eigener Kraft nicht mehr schaffe gegen die Wellen anzupaddeln und dann mein Boot kentert? Und was, wenn ich aufs offene Meer hinaustreibe, von Quallen gestochen oder von einem Hai gefressen werde oder einfach nur elendig ertrinke, weil ich eine miserable Schwimmerin bin? Die Drama-Queen in mir machte vor keinem Szenario Halt. Eine Woche später endete ich dann irgendwie doch auf dem Vordersitz eines Doppelkajaks nur mit dem Lebensnotwendigsten wie Proviant und einem Set Wechselkleidung im Heck. „Ich geh auf eine Expedition und kann mein Handy nicht mitnehmen, nicht wundern, ihr hört ein paar Tage nichts mehr von mir“ schrieb ich als eventuelle Abschiedsworte in eine SMS an meine Mutter.
Die Expedition begann abends. Unser Boot war das schwächste Glied der 7-köpfigen Abenteurertruppe, da wir diejenigen waren, die sich ohne Vorerfahrung in dieses Abenteuer gestürzt haben. Dieser erste Abschnitt war nahezu unerträglich. Wir schafften einfach keine gemeinsame Koordination und so bewegte sich unser Boot nur zickzackartig voran. Dass wir uns die Paddel nicht gegenseitig über die Rübe gehauen haben, grenzt an ein Wunder. Erst nachträglich sagte man uns, dass diese Doppelkajaks unter dem Beinamen „Divorce Boats“ gehandelt werden. Das ist kaum verwunderlich.
Als wir den angepeilten Streckenabschnitt überwunden und es 4 Stunden später vollkommen übermüdet, halb erfroren und mit ersten Blasen an den Fingern an unseren Übernachtungsstrand in Laxey schafften, war ich mir sicher: Das war’s für mich. Ich sag den anderen, dass ich an dieser Stelle abbreche und den Bus zurück ins Hostel nehme. Mitten in der Nacht fährt aber keiner, deshalb beschloss ich mit der Ankündigung noch bis zum nächsten Morgen zu warten.
In der Nacht wehte der eisige Küstenwind und meine Isomatte und der Schlafsack boten auch nicht genügend Schutz vor den kühlen Steinen, auf denen wir übernachteten. So zitterte ich mich durch die Nacht. Als unser Expeditionsleiter (der trotz viel Erfahrung bei seinem letzten Versuch, die Insel auf einem Kajak zu umrunden, gescheitert ist und diesmal den Ansporn hatte, es unbedingt zu schaffen) um 6 Uhr in der Frühe ankündigte, dass wir uns zurück in unsere nassen, kalten Schwimmanzüge und wieder aufs Meer begeben, ging plötzlich alles ganz schnell. Und ohne, dass ich es eigentlich wollte, saß ich wieder in diesem verdammten Boot und musste kräftig paddeln, um voranzukommen und damit meine Muskeln endlich nicht mehr zittern. Innerlich verfluchte ich alles und jeden.
Ein paar Stunden später war ich um einige Blasen zwischen Daumen- und Zeigefinger sowie Handgelenksschmerzen reicher, aber es passierte etwas Wundervolles: Die Sonne kam heraus. Und ganz plötzlich wurde mir endlich nicht nur am ganzen Körper, sondern auch ums Herz warm. Ich begann meine Schmerzen und Ängste zu vergessen. Stattdessen sah ich etwas, wofür mein Blick zuvor völlig trüb war: NATUR PUR! Es war traumhaft: Das blaue Meer, soweit das Auge reichte, raue Küsten mit Vogelarten, die mir noch nie vorher begegnet sind und das Highlight: Seehunde. Und zwar jede Menge davon! Sie haben uns abschnittweise sogar begleitet. Einmal haben wir sogar auch die einheimische Delphinart zu sehen bekommen. Wir waren Zeugen einer traumhaften Kulisse und Erfahrung, die verhältnismäßig sicherlich nur sehr Wenigen vor uns vergönnt gewesen waren. Und mit der Bootskoordination klappte es auch immer besser. Als Dream-Team paddelten wir den anderen mit unserem sogenannten „Divorce Boat“ inzwischen fast davon.
Auf der Expedition habe ich mit der Zeit auch tatsächlich erfahren, was es heißt, den Gesetzen der Natur ausgesetzt zu sein. Wenn Ebbe und Flut mal gegen uns arbeiteten oder wenn man über Stunden hinweg kaum vom Fleck kam, weil man unentwegt gegen heftige Wellen ankämpfen musste, zum Beispiel. Und dennoch…ich hatte keine Angst. Umso weiter vorangeschritten die Expedition war und umso mehr Streckenabschnitte wir geschafft hatten, desto selbstbewusster wurde ich. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich zu viel mehr imstande bin, als ich dachte. Die tatsächliche Blockade besteht nur in meinem Kopf. Und nur, wenn ich sie überwinde, können mir solche wunderbaren Dinge passieren. Besonders deutlich wurde mir das an einem Abend, als es windstill und das Meer spiegelglatt und friedlich war. Man konnte durch das Wasser hindurchsehen wie durch eine Glaswand. Schier unendlich viele Ohrenquallen schwebten unter der Oberfläche. Es war ein Moment vollkommener Stille, in dem ich dachte: „So fühlt sich also echte Freiheit an“.
In der zweiten Nacht kamen wir an den Strand von Peel, der komplett mit Jakobsmuscheln übersäht war. Ich konnte es nicht fassen, dass wir bereits über die Hälfte geschafft hatten. Ich nahm eine Jakobsmuschel als Andenken mit. Spoiler Alert: Unser gesamtes Team schaffte es dann nach 3 harten, aber zauberhaften Tagen die gesamte Insel zu umrunden. Wir alle kamen dabei an unsere Grenzen und fanden durch Willenskraft und nicht zuletzt auch Teamgeist zum Ziel, wo wir uns glücklich und jubelnd in den Armen lagen. Bis heute sehe ich mir diese Jakobsmuschel fast täglich an und sie erinnert mich daran, was für ein lohnendes Gefühl es ist, sich seinen Ängsten zu stellen, denn dann kann ich das Unmögliche möglich machen.
Niemand von uns kommt hier lebend raus. Also hört auf, auch selbst wie lebende Denkmäler zu behandeln (Anthony Hopkins)
Und wann trittst du deine Heldenreise an?