Ein postfaktisches Weltende
Verfasst von Henrik Schütz am
Presse und Gesellschaft legten den Untergang der Welt auf den 20. April 1910 fest. Laut Wissenschaft gab es dafür keinen Grund, weil man sich damals schon darüber im Klaren war, dass der Komet etwa alle 75 Jahre an der Erde vorbei zieht. Der Astronom Edmond Halley hatte schon im 18. Jahrhundert die Bahn des Kometen berechnet. Doch seit der ersten Sichtung 1909 begann die Hysterie, als man dann im März 1910 den Kometen mit bloßem Auge sehen konnte eskalierte die Lage. Menschen begingen Selbstmorde, kreuzigten sich selber oder versuchten durch Opferungen von Jungfrauen das nahende Ende abzuwenden. Sternwarten und Wissenschaftler hingegen rüsteten sich um möglichst viele Informationen von dem Kometen zu sammeln. So benutzte der Astronom und Physiker William Huggins zum ersten Mal ein Spektroskop, dass Licht in seine Farben und Frequenzen zerlegt, um dann die Zusammensetzung des Kometen analysieren zu können. Für die Wissenschaft zwar sehr interessant, aber die Menschen interessierte das nicht, sie waren damit beschäftigt Kometen-Pillen und Gasmasken zu kaufen.
"Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,In allen Lüften hallt es wie Geschrei,Dachdecker stürzen ab und gehn entzweiUnd an den Küsten – liest man – steigt die Flut.Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfenAn Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.Die Eisenbahnen fallen von den Brücken."Als der Komet dann am 18. Mai am nächsten zur Erde war strömten die Menschen in die Kirchen. Viele blieben zuhause und dichteten ihre Häuser luftdicht ab, damit das gefährliche "Kometengas" nicht in die Häuser kommen konnte. Am nächsten Morgen verkündeten die Zeitungen, dass der Komet, wie erwartet, an der Erde vorbei gezogen war, die Ernüchterung war groß. Der Weltuntergang war ausgeblieben.
("Weltende" von Jakob von Hoddis)
108 Jahre später kann man über diese Geschichte nur müde lächeln. Wir leben ja bekanntlich in postfaktischen Zeiten und auch damals konnten Fakten die Menschen nicht beruhigen. Trotz aller Berechnungen und Erfahrungen war man fest davon überzeugt, dass die Welt von dem Kometen getroffen wird.
Heute leben wir in einer Zeit in der sich die Menschen von Gefühlen leiten lassen, die Fakten dazu sucht man sich dann selbst im Internet. Bestätigt wird man dann im besten Fall von seinen Facebook-Freunden oder Politikern, die es sich besonders einfach machen wollen. Die Gefühle schaukeln sich immer weiter hoch und es kommt zur Massenhysterie. Die Betroffenen glauben zwar an eine fiktive Ursache, die Folgen daraus sind aber real. Als Beispiel kann man hier Fake News über Flüchtlinge nennen, die vor allem in sozialen Medien verbreitet werden. Es ist völlig unerheblich ob die Nachricht echt ist, solange sie die Angst der Betroffenen bestätigt. Das die Nachricht nicht echt ist, wird nicht akzeptiert.
Wozu das führen wird, wird sich zeigen. Hoffentlich wird die Ernüchterung groß, wenn die Menschen nach der ausgebliebenen Katastrophe wieder normal miteinander leben können.