Krisensitzung: Europa
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Ich habe letzte Woche an einem Infoabend teilgenommen mit dem Titel: „Flüchtlingskrise, Eurokrise, Nationalismus – was hält die EU überhaupt noch zusammen?“ Weil mich die Antwort auf diese Frage brennend interessiert, hatte ich mir den Termin dick im Kalender markiert.
In den muffigen Räumen des Europäischen
Dokumentationszentrum (EDZ) im der Universitätsbibliothek fand sich dann auch
eine recht illustre Runde zusammen. Von bewollpulloverten alten Herren mit
recht strähnigem Haar über Mittdreißiger die ein wenig an den klassischen Langzeit-Geschichtsstudenten erinnern bis zum allgegenwärtigen Hipster. Das wird interessant, dachte ich
mir, als ich mich gleich in der ersten Reihe niederließ um der Anmoderation
durch einen Bonner Geschichtslehrer zu lauschen.
„Wer hätte das gedacht?“ war die Leitfrage der Moderation. Gemeint war
natürlich die Serie an Desastern, die die EU in den letzten Monaten heimgesucht
hat. Dass etwa Großbritannien aus der EU austreten will, dass die gemeinsame Währung so stark wie nie auf dem Prüfstand steht und vor allem, dass sich so viele
EU-Bürger von rechtspopulistischen Parteien angezogen fühlen würden.
„Eurosklerose“ war das Stichwort, unter dem die wachsenden Fliehkräfte in der EU
aufgegriffen wurden. Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Teilnehmer
mit tiefen Sorgenfalten diese Akkumulation der europäischen Katastrophen um die
Skurilität der amerikanischen Präsidentschaftswahlen ergänzten.
Ja, wer hätte das gedacht? Ich nicht.
Ich gehörte zu der Fraktion „Sorgenfalte“ im Publikum. Wir sind erschrocken über den zivilisatorischen Rückschritt, den die westliche Gesellschaft gerade vollzieht, als hätte man sich abgesprochen, mal für eine historische Zäsur zu sorgen und hart erarbeitete Errungenschaften mit Schmackes in die Tonne zu kicken. Wir sind nicht nur erschrocken. Wir sind auch sehr überrascht, schütteln den Kopf vor lauter Unverständnis und möchten die ganze Welt an den Schultern packen und mal ordentlich durchschütteln.Die Veranstaltung war – zu meiner großen Bereicherung – nicht nur von meinesgleichen besucht. Der ältere Herr im Wollpullover entpuppte sich als überzeugtes AfD Mitglied und eine sehr adrette Mittfünfzigerin in Designerjacke führte die Konflikte im Mittleren Osten darauf zurück, dass „die da unten“ einfach kulturell zu Gewalt veranlagt seien. Aus dem rege involvierten Publikum sprudelten demokratie- und menschenrechtskritische Beiträge. Die Flüchtlinge sollten doch aus ihrem Heimatland einen Asylantrag stellen und dort auf das Ergebnis warten müssen. Und wenn es dort keine Botschaft eines europäischen Staates gibt, weil die weggebombt worden ist? Dann müssen sie halt da bleiben.
Empörte Widerrede aus meiner Fraktion.
Haben Sie schon mal was von Menschenrechten gehört? Was würden Sie denn tun, wenn Ihr Leben und das Ihrer Familie bedroht wäre? Beide Seiten liefern sich einen erbitterten Streit. Der Moderator will seinem Titel alle Ehren machen und schreitet schlichtend ein. Doch man hat das Gefühl, die Lager sind viel zu zerstritten um auf einen grünen Zweig zu kommen.
Natürlich wurde die Leitfrage der Verantwortung nicht ansatzweise beantwortet. Darum ging es wohl auch keinem. Aber der Abend hat einen – wenn auch recht hitzigen – Dialog zwischen Anhängern und Gegnern unseres gegenwärtigen Systems geschaffen. Als Studentin der Politikwissenschaft befinde ich mich wohl unter der gleichen Käseglocke wie besagter Geschichtsdozent, der Moderator, der Experte und die anderen aus meiner Betroffenheits- Fraktion. In der Uni forschen wir über die AfD Wähler. Wie alt sind sie? Männlich, weiblich, welcher sozioökonomische Hintergrund? All diese Fragen stellen wir uns, weil wir verstehen wollen, warum es sie überhaupt gibt. Dabei bestätigen wir uns gegenseitig der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges: Europa als ein Friedensprojekt, das weltweit seinesgleichen sucht…und so weiter.
Für mich war es sehr gewinnbringend, die Käseglocke ein wenig zu lüften und mit Menschen zu reden, die gegenteilige Ansichten haben. Ich habe danach mehr verstanden, als nach der Lektüre der zahlreichen wissenschaftlicher Paper über die rechtspopulistischen Bewegungen in Europa.Verteufeln ist keine Lösung.
Wir stehen gerade vor einem sehr brüchigen Konstrukt, das zum einem Scherbenhaufen zu verfallen droht. Wenn sich die Lager spalten und nicht mehr miteinander sprechen, haben wir verloren. Jede Stimme zählt gleich viel und wir müssen endlich wieder anfangen mit allen Mitteln die Menschen von unserer Mission zu überzeugen: Demokratie gibt’s nicht geschenkt. Man muss für sie kämpfen. Also raus aus der Käseglocke!