63. Kurzfilmtage Oberhausen: Preisträger!
Verfasst von Federico Kersting am
Uns Oberhausen-Neulinge hat nicht nur die Vielfalt der vorgestellten Filme, sondern vor allem auch die meistens experimentelle Umsetzung dieser umgehauen (im positiven und negativen Sinne). Umso spannender war es sich vorzustellen wie die Jurys sich entscheiden und wer in der gestrigen Preisverleihung mit welchem Preis,von welcher Jury und mit welcher Begründung prämiert wird. Hier nun ein Überblick der Preisträger im Internationalen, Deutschen und NRW-Wettbewerb.
Preise des
Internationalen Wettbewerbs
Preise der Internationalen Jury
Großer Preis der Stadt
Oberhausen
dotiert mit 8.000 Euro
Qiu
(Late Summer)
Cui Yi
China 2017, 13 Min., Farbe
Begründung:
Wir verleihen
den Großen Preis an einen sehr einfachen, aber beeindruckend vielfältigen
Film – ein filmisches Tableau vivant, das aufzeigt, wie die Zyklen von
Schauspiel, Konsum und Zuschauen im Alltag von der Geschichte belastet
und begrenzt werden.
Hauptpreis
dotiert
mit 4.000 Euro
500,000 Pee
(500,000
Years)
Chai Siris
Thailand 2016, 16 Min. 17 Sek., Farbe
Begründung:
Wir
verleihen den Hauptpreis an einen gelungenen meditativen und
hochpolitischen Film, der die Frage stellt, wie Erinnerung durch die
menschliche Geschichte, Spiritualität, Denkmäler, Kino und Gewalt geformt
wird.
e-flux-Preis
dotiert mit 3.000
Euro
Für eine herausragende Film- oder Videoarbeit, die eine neue Form
für das poetische und elektrische Potenzial des bewegten Bildes im
Zeitalter globaler Informationsflüsse findet.
Animal Year
Zhong Su
China 2016, 7 Min 3 Sek., Farbe
Begründung:
Wir
verleihen den e-flux-Preis an einen eindringlichen Film, der durch seine
zutiefst verstörenden und meisterhaft gestalteten Bilder unter die Haut
geht. Es ist das visionäre animierte Porträt einer dystopischen Zukunft
der Menschheit, in der zwei verblüffend unterschiedliche Welten
aufeinanderprallen.
Lobende Erwähnungen
Tower XYZ
Ayo Akingbade
Großbritannien 2016, 3 Min 1 Sek.,
Farbe
Begründung:
Eine lobende Erwähnung geht an einen frischen und
aufregenden Blick auf die Realitäten und Widerstände in immer schneller
gentrifizierten Städten.
Borderhole
Amber Bemak/Nadia Granados
Mexiko 2016, 14 Min., Farbe
Begründung:
Eine lobende
Erwähnung geht an ein starkes feministisches Statement, das mit Hilfe
provokativer Performances aufzeigt, wie Grenzpolitik auch Körperpolitik
ist.
Jury des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen
1. Preis
dotiert mit 5.000
Euro
Oni samo dolaze i odlaze
(They Just
Come and Go)
Boris Pojak
Kroatien 2016, 20 Min., Farbe
Begründung:
Ein
Zufallsprodukt: Ein Mensch kommt auf die Welt, er schreit und tanzt,
kämpft und liebt und hat sein Leben lang Sehnsucht nach Wasser, Luft und
Licht. Der Film zeigt – rein dokumentarisch und ohne Text – jugendliche
Partygeister und alte Menschen an ein- und demselben Ort – einem Strand
in Split, Kroatien. In ausgesuchten Momentaufnahmen entsteht ein Reigen
von Eifer, Begehren, Verlust, Reife, Kampf und Hingabe, Ruhe und Bewegung.
Unbewusst die Jugend, bewusst das Alter oder umgekehrt, das spielt
eigentlich keine Rolle in diesen aberwitzigen Beobachtungen. Echt
menschlich sind diese geheimen Blicke, frech, liebevoll und voller
Wahrheit. Mit starken Kontrasten, in präzisen und brillanten Bildern
fängt der Film bei unterschiedlichsten Generationen die fröhliche
Vergeblichkeit des Daseins ein. Das Leben lebt von Anfang bis Ende. Im
Meer, im Wasser, unter der Sonne, in diesem Film.
2.
Preis
dotiert mit 3.000 Euro
Terrenal (En oposición al cielo)
Earthly (Opposite from
Heaven)
Ivan Jose Murgic Capriotti/Sofia Lena Monardo
Argentinien
2016, 19 Min. 23 Sek., Farbe
Begründung:
Reise in eine winterliche Landschaft, der die
Farben abhanden gekommen sind: Ein Ort erwacht, Leute machen Brennholz,
ein klappriges Auto hält, um einen Hund abzuholen, Fahrräder, die durch
Pfützen fahren, Kinder beim Fußballspiel. Dann: ein Wandbild mit der
Aufschrift „Tierra para todos“, Soldaten mit Waffen, eine Kaserne.
Durch den fast wortlosen Dokumentarfilm führt das melancholische Gesicht
einer Frau – wir sehen es bei Alltagsverrichtungen im Haus, bei einer
Kirchenandacht und einer Militärschau im Stadion – ein Gesicht, das man
nicht vergisst, gerahmt von einer mythischen Bergwelt und dem
schneebedeckten Vulkan Lanín. Terrenal ist ein poetischer Film, der ganz
auf die Kraft seiner fotografischen Bilder baut, und in jeder Einstellung
die Frage aufwirft, die den ganzen Kontinent bis heute bedrängt: Wem
gehörte einst das Land, und wer hat es sich gewaltsam genommen.
Lobende
Erwähnungen
Animal Year
Zhong Su
China 2016, 7 Min 3 Sek., Farbe
Begründung:
Endzeit und Neubeginn: Die
beeindruckende Animation zeigt eine post-apokalyptisch anmutende Welt, in
der sich Tierwesen durch eine zertrümmerte Zivilisation schleppen. Diese
mutiert zu einem Rummelplatz, während die Flüchtlinge von fliegenden
Raketenbabies bombardiert werden – eine phantastische Vision. Der Film
eröffnet den gedanklichen Spielraum zwischen Flucht, Vertreibung und
Erlösung und bildet eine zeitgenössische Philosophie der
Daseinsberechtigung. In extremer Detailgenauigkeit treffen Apokalypse und
Hoffnung aufeinander – Vergnügungssucht und Untergang stehen am Abgrund
Hand in Hand.
Nyo Vweta Nafta
Ico Costa
Portugal/Mosambik 2017, 20 Min., Farbe
Begründung:
Auf einem Markt
in Mosambik sucht ein Mann vergeblich eine junge Frau. Was er findet,
sind die jungen Männer der Stadt, die sich Geld und Frauen wünschen, mit
dem Smartphone flirten, von Markenwaren und Gesangskarrieren träumen oder
afrikanische Früchte als Superfood in Europa vermarkten wollen. In
scheinbar absurden Dialogen bringt der Film eine Jugend zum Sprechen, die
ihr witziges und selbstbewusstes Spiel treibt mit afrikanischen und
westlichen Glücksvorstellungen und dabei den kolonialen Blick
umkehrt.
Preis der Internationalen Filmkritik (FIPRESCI-Preis)
Zheng Pian Zhi Wai
(Off Takes)
Hao Jingban
China 2016, 21
Min. 18 Sek., Farbe
Begründung:
Für einen unglaublich selbstreflexiven und
gleichzeitig sensiblen Film. Für eine brillante Meditation über
historische und zeitgenössische Bilder, die für die Zuschauer, selbst für
Fachleute, immer ein Rätsel bleiben.
Preis der Ökumenischen Jury
dotiert
mit 1.500 Euro
Seeds
Philippa
Ndisi-Herrmann
Kenia 2016, 4 Min., Farbe und s/w
Begründung:
Wasser schenkt
und empfängt, es umfängt und gibt frei. Leben und Liebe, Erinnerung und
Zukunft spiegeln sich in ihm, dem Urprinzip. Die Schildkröte trägt ihre
Eier aus dem Meer ans Land und zieht sich wieder ins Meer zurück. Die
Eier sind zusammen dort und doch jeweils allein für sich. „Each egg a
globe, each globe a world, each world a universe.” Wir leben miteinander,
sagt der Vater; wir leben ineinander, sagt die Mutter.
Vom Kleinen,
in dem Samen und Urkraft des Ganzen und des Großen liegen, von der Liebe
von Mutter und Vater erzählt dieses wundervolle Werk. Poetisch, sanft und
metaphorisch, ein Gedicht der Worte von Kind und Mutter, ein Gedicht der
Bilder von Meer, Land und Sand ist diese künstlerische Kostbarkeit. Sie
ragt heraus durch ihren Dialog der Stimmen miteinander und der Worte mit
den Bildern. Die Fotos lassen den Zuschauer innehalten und die Ruhe des
Urprinzips fühlen, die Filmsequenzen umfangen seine eigene Bewegung im
Schwarm der Fische und der Nähe der Familie. So viel mehr als Materie ist
diese Welt, so viel mehr als eine geteilte Zahl an Tagen ist die Liebe
zueinander. Schöpfung ist die Einheit des Lebens.
Lobende Erwähnung
The Separate System
Katie Davies
Großbritannien
2017, 23 Min. 11 Sek., Farbe
Begründung:
Pflichten sind zu erfüllen, Aufgaben zu
erledigen, das System von Militärdienst, Alltags-/Berufsleben und Familie
ist zu bewältigen. Für andere übernehmen die Soldaten Verantwortung; wenn
sie im Beziehungsgeflecht scheitern, sind sie jedoch alleine: Die
strafgefangenen ehemaligen Soldaten werden verurteilt und eingesperrt.
Sie wissen wofür, aber nicht, warum. Weil ihre Bestrafung damit
stellvertretend für die Flucht der Gesellschaft in die Ratlosigkeit
erfolgt, koppelt sie die Menschen, um die es geht, von sich ab.
Der
Film gibt diesen Soldaten eine Stimme, er erzählt sein eindrucksvolles
Thema in rauen O-Tönen und stimmigen, präzise fotografierten Bildern. Die
als Zäsuren platzierten handschriftlichen Notizen verdichten die Not der
Gefangenen, richten ihre Plädoyers der Wut oder Verlorenheit gemeinsam
mit der Bildebene an uns, die Gemeinschaft.
Dass der Sinn nur noch
leer ist, wird gegen Ende dieses wuchtigen und wichtigen Werkes
emblematisch. Der Heimatverein Liverpool FC als großes verbindendes
Element der Gemeinschaft wird sichtbar – doch dessen damit implizit
transportierte, allbekannte Hymne „You’ll never walk alone“ verstärkt
umso mehr die Doppelbödigkeit der Situation der ehemaligen Soldaten. Ihr
Leben ist eingelagert in einem engen separaten System der Gesellschaft.
Der Raum von Schuld wird weit. Er öffnet die Fragen von Gewalt und
Gesellschaft und jene nach den Konstitutiven des Menschlichen, nach Grund
und nach Identität.
ZONTA-Preis
dotiert mit 1.000 Euro
für eine Filmemacherin
aus dem Internationalen oder Deutschen Wettbewerb
pretty boyz don’t die
Jovana Reisinger
Deutschland 2016, 19
Min. 13 Sek., Farbe
Begründung:
Eine Gruppe von Außenseitern versucht in einer
Großstadt zu überleben, eine Filmemacherin im deutschen Film. Der
Zonta-Preis wird einem Film zugesprochen, der neue erzählerische Wege
geht und serielle Formen erprobt.
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Preise des Deutschen Wettbewerbs
Preis für den besten Beitrag des
Deutschen Wettbewerbs
dotiert mit 5.000 Euro
Die Herberge
Ulu Braun
Deutschland 2017, 14 Min.
45 Sek., Farbe
Begründung:
In einem virtuellen Kamera-Travelling werden die
Möglichkeiten neuer Medialität ausgeschöpft. Reale Shots von Menschen und
Objekten finden sich in einem digital generierten postapokalyptisches
Panorama wieder, in welchem sie zu Protagonisten und Objets trouvés einer
surrealen Handlungskette werden. Die Videocollage verbindet Pop-Kultur
und Western-Mythen mit biblischer Erzählung und Biker-Kultur und
Zivilisationsmüll mit kulturellen Versatzstücken. Unterschwellig entsteht
eine faszinierende, hypnotisierende zivilisationskritische Narration, die
noch lange nachhallt.
3sat-Förderpreis
dotiert mit 2.500 Euro, für einen Beitrag, der sich durch eine neue
Sichtweise auszeichnet.
Der Preis umfasst darüber hinaus das Angebot,
den ausgezeichneten Beitrag zu erwerben und im 3sat-Programm zu
präsentieren.
El Manguito
Laurentia
Genske
Deutschland 2017, 18 Min. 56 Sek., Farbe und s/w
Begründung:
Die
Regisseurin nähert sich den Bewohnern eines abgelegenen kubanischen Dorfes
über Zeichnungen, Fotografien und oft stumme oder leise Filmbilder.
Langsam, aber gezielt, bringt sie uns einer Familie und deren Ängsten und
Sorgen näher und entfaltet über sie stellvertretend die Geschichte des
Dorfes und des ganzen Landes. Laurentia Genske und ihr Kameramann Simon
Rittmeier öffnen uns mit El Manguito einen Blick in eine fremde Welt –
die unaufdringliche Nähe zu den Menschen und die klassische Erzählform ist
Dokumentarfilm von seiner besten Seite.
Lobende Erwähnungen
la boxe
Tim Nowitzki
Deutschland 2016, 28 Min.
20 Sek., Farbe
Begründung:
Ring frei für ein großartiges dokumentarisches Porträt: In
Tim Nowitzkis konsequent erzähltem und visuell eindrucksvollem Kurzfilm
zeigt sich der Boxring als ein Ort, wo Gewalt entfesselt und zugleich
begrenzt wird.
my castle your castle
Kerstin Honeit
Deutschland 2017, 14 Min. 47 Sek., Farbe
Begründung:
Ein Film, der
ausgehend von der Debatte um die Rekonstruktion des Berliner
Stadtschlosses den Fragen nach der Sinnhaftigkeit von städtebaulicher
Historisierung nachgeht. Herausgekommen ist dabei ein surreales und
zugleich eindrückliches Tableau.
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Preise des NRW-Wettbewerbs
Hier gilt besonders anzumerken, dass die ersten Preise "nach Köln" gingen, wenn man es so ausdrücken mag, denn sowohl das Duo
Markus Mischkowski & Kai Maria Steinkühler, als auch die KHM-Absolventin
Moïra Himmelsbach sind als "Kölner Filmemacher" zu bezeichnen.
Preis
für den besten Beitrag des NRW-Wettbewerbs
dotiert mit 1.000
Euro, gestiftet von der NRW.Bank
Der
Wechsel
Markus Mischkowski, Kai Maria Steinkühler
Deutschland 2016, 6 Min., s/w
Begründung:
Eine Hommage an die Anfänge des Kinos. Äußerst
charmant, liebevoll und in Tradition der Kölner Gruppe inszeniert,
verliert sich der Film nicht in Nostalgie, sondern nimmt Bezug auf
aktuelles politisches Zeitgeschehen. Tempo, Humor, Spielfreude und
stimmige Zitate, eingefangen von einer historischen 35mm-Kamera mit
Handkurbel, fügen sich zu einem rundum gelungenen Filmjuwel, das
Leidenschaft für das Kino versprüht.
Förderpreis
des NRW-Wettbewerbs
dotiert mit 500 Euro, gestiftet von der
NRW.Bank
Stranden
Moïra Himmelsbach
Deutschland 2017, 28 Min. 2 Sek., Farbe
Begründung:
Vier Momentaufnahmen,
lose miteinander verbunden, legen Risse und Brüche im alltäglichen
Miteinander frei. Präzise beobachtet, von einem herausragenden
Darstellerensemble getragen, schafft es Moïra Himmelsbach auf exzellente
Weise, Unbewusstes bewusst zu inszenieren.
Lobende Erwähnung
Mishka
Eszter Jánka
Deutschland 2016, 4 Min. 54
Sek., Farbe
Begründung:
Eszter Jánka verzaubert mit ebenso abstrakt reduzierten
wie poetischen Bildern, die einen emotionalen Sog entfalten. Das ist
sinnlich, faszinierend und weckt vielschichtige Assoziationen.
Preis der Westart-Zuschauerjury
dotiert mit 750 Euro, gestiftet von Westart
Vögel auf Stromleitungen – Version B
Dean Ruddock
Deutschland 2017, 4 Min. 11 Sek., s/w
Begründung:
Ein gewaltiger Bilderrausch in
Schwarzweiß. Videoclip-artige Szenen werden zu einer Poetry Slam-Collage
montiert und damit zu filmischer Poesie. Auf künstlerische und
unterhaltsame Weise erzählt der Film von der Vielseitigkeit und Schönheit
des Lebens, aber auch von den Schwierigkeiten, in der Flut der auf uns
einwirkenden Informationen eine persönliche Orientierung zu finden. Ein
Film aus NRW mit den Bildern und der Sprache unserer Region:
visualisierte Dichtung, die uns berührt – und auch etwas schwindelig
gemacht hat.