Higlights auch in der zweiten Woche mehr als reichlich vertreten
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Auch in der zweiten Woche geizt die Berlinale nicht hochinteressanten Beiträgen. Da wäre zum Beispiel Shahada. Ein Episodendrama aus deutschen Landen zum Thema Islam und der Entwurzelung junger Moslems, ihrem verzweifelten Ringen nach Glauben, ihren fundamentalen Zweifeln, ihrer Wut und schlussendlicher Erlösung. Die Story dreht sich um eine berliner Moschee und den dort ansässigen sehr weltoffenen Imam, der sich aufopferungsvoll um seine Schäfchen kümmert und die muslimische Gemeinschaft beisammen hält. In dieser Funktion als weltliche und geistliche Stütze der Gemeinschaft hat er jedoch beide Hände voll zu tun.
Da ist der junge Polizist, der einst versehentlich eine schwangere anschoss, worauf ihr Kind verstarb. Seither wird er von selbstzerstörerischen Schuldgefühlen geplagt, die sein Familienleben auf harte Proben stellen.
Da ist ein junger Lagerarbeiter, der homosexuelle Gelüste verspürt, die er nicht mit seinem Glauben in Verbindung bringen kann.
Und natürlich die Tochter des Imam, die nach einer komplikationsreichen Abtreibung an der eigenen Schuld zu zerbrechen droht und sich in heillosen Fundamentalismus flüchtet, um an dieser Stelle nur 3 zu nennen.
Da ist es Regisseur Burhan Qurbani hoch anzurechnen, dass er über die zahlreichen ineinander verwobenen Geschichten nicht die Übersicht verliert und seine unterkühlte und doch intensive Bildsprache zu jeder Zeit Empathie und gleichzeitig Distanz schafft. Dafür, dass Shahada ein Debütwerk ist, glänzt es durch großes erzählerisches Können und visuelle Spannung. Nach „Der Räuber“ und „Im Schatten“ der dritte Triumph aus deutschen Landen, der die diesjährige Berlinale zu einem höchst erfolgreichen Heimspiel werden ließ.
Ein mehr als gelungener Blick in die manchmal verwirrende Welt des Transgender-Kinos bildet „The Kids are allright“ von Lisa Cholodenko. Dort geben die Grande Dames des amerikanischen Kinos Annete Bening und Juliane Moore ein lesbisches Paar mit zwei pubertierenden Kindern und klassischen Rollenbildern. Die resolute Nic (Bening) gibt den geldverdienenden maskulinen Part, während die empathische Jules (Moore) den Mutterpart der etwas anderen Familie übernimmt. Im suburbanen Kalifornien angesiedelt leben sie zwar alles andere als konventionell, doch äußerst harmonisch und in vielerlei Hinsicht funktionell in den Tag hinein. Turbulös hingegen wird es als sich ihre Kinder auf Suche nach dem Samenspender machen, der sie beide einst mit Hilfe eines Reagensglases gezeugt hat. Die Suche gestaltet sich als äußerst unproblematisch und sehr bald ist der Vater ausgemacht. Diesen gibt uns ein höchst charmanter Mark Ruffalo als liebenswert hemdärmeligen Späthippie, der nicht nur das Herz der Kinder, sondern auch den Schoß von Jules im Sturm einnimmt. Das Drama scheint vorprogrammiert. Und so kommt es dann auch.
„The Kids are allright“ lief zwar ausser Konkurrenz, doch mauserte er sich in Windeseile zu einem kleinen Festivalliebling, der die Herzen sowohl der Kritikerschar als auch des Publikums im Sturm einnahm. Dem habe auch ich nichts hinzuzufügen. Ein liebenswerter Film, der sicherlich ohne große Probleme sein Publikum auf den großen Leinwänden finden wird. Es ist ihm zu gönnen.
Wahre Highlights gab auch mit den beiden europäischen Thrillern „Bibliotheque Pascal“ und „Indigène d`Eurasie“ zu verorten. Abseits der amerikanischen Tendenz, Genrestoffe auf ihren eskapistischen Attraktionswert zu reduzieren liefern beide Werke erschütternde Einblicke ins Janusgesicht von Kriminalität und Menschenhandel im vereinten und doch zerrissenen Europa der Gegenwart ab. Die Herangehensweisen beider Filme könnten jedoch nicht unterschiedlicher Sein. „Indigène d`Eurasie“ von Sharunas Bartas beispielsweise schildert in düsteren, tristen Farben von einer Odysee durch den Ostblock und Frankreich auf der Flucht vor Gangstern. Was bei amerikanischen Genrevertretern schnell zu einer actionreichen Tour de Force ausgeartet wäre, ist bei Bartas ein hoffnungsloser Roadtrip auf dem Lost Highway, der gewiss kein gutes Ende nimmt, und sein Publikum ebenso schockiert wie niedergeschlagen zurücklässt. Unbequemes Kino, dem ein Kinostart in Deutschland gewiss zu wünschen wäre.
Ebenso „Biblioteque Pascal“ vom rumänischen Regisseur Szlabolcs Hajdu. Hajdu erzählt von der unglaublichen einer jungen Rumänin, die in die Fänge der Zwangsprostitution gerät. Vom eigenen Vater nach Deutschland gelockt, verkauft dieser sie weiter an britische Schleuser, die sie prompt weiterverhökern ans dämonische Freudenhaus „Bibliotheque Pascal“ in London, wo sie dekadenten Briten für HÖCHST bizarre Liebesdienste feilgeboten wird. Fühlte sich „Indigène d`Eurasie“ noch dem Realismus verbunden, so verläuft sich Hajdu's Werk mit voller Absicht in eine lustvoll überhöhte Traumwelt der faszinierenden Widerlichkeit und vermag doch in seinem wunderbar enthemmten Trash mehr Wahrheit zu sprechen, als der heilige Ernst. „Bibliotheque Pascal“ läßt erahnen wie Terry Gilliam ein Buch des Marquis de Sade verfilmen würde. Großes Kino.
Bei solch reicher Ausbeute vergisst man ganz gerne belanglose Filme Nicole Holofcener's langweiligen Reigen „Please Give“ mit Cathrine Keener und Oliver Platt, der zwar nicht weh tut, aber schneller vergessen ist, als man vom Kinosessel zum Ausgang braucht, oder „Der Tag des Spatzen“, ein filmisches Heilmittel gegen Schlaflosigkeit, das bei mir wahre Wunder gewirkt hat. 10 Minuten und ich war vollends weggetreten.