Berlinale 2008 - 5. Tag: Mit Kirschblüten und Spatzen geht es ab in die Slums der Welt

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Sven schreibt:
Einen ungewöhnlich wüsten Montagmorgen erlebt mit "Tropa de Elite", dem Wettbewerbsbeitrag aus Brasilien. In Rios Favelas zieht eine Elitetruppe der Polizei gegen das organisierte Rauschmittelgewerbe zu Felde, und da fliegt natürlich gehörig die Kuh. Dazu sucht der Leiter der Truppe auch noch einen Nachfolger, denn er selber wird bald Vater. Das optisch eindrucksvolle, hektisch bis wild gefilmte und drastische Ballerspektakel unternimmt durchaus den löblichen Versuch, eine Übersicht über den aussichtslosen Kampf der korrupten Polizeit gegen das organisierte Verbrechen zu vermitteln - letztendlich unterhält es aber nur ganz passabel; gut inszenierte Action sieht anders aus, und engagiertes politisches Kino sowieso.
In den anschließenden deutschen Wettbewerbsbeitrag "Hanami - Kirschblüte" von Doris Dörrie mit schlimmsten Erwartungen hineingegangen. Es geht um ein älteres Ehepaar, und als die Frau unerwartet verstirbt, bricht der Mann nach Japan auf - wo sie schon immer hingewollt hatte und ihr gemeinsamer Sohn wohnt. Dort wandelt er auf den Spuren von den Sehnsüchten seiner Frau, die er zu deren Lebzeiten nie ernst genommen hatte. Wie man sich das bei Dörrie eigentlich auch gar nicht anders vorstellen kann, ist "Hanami" etwas zu rührig und vor allem fingerdick mit schaler Lebensbewältigungsphilosophie bestrichen, und aufregend auch nicht eben. Für einen Dörrie aber Überdurchschnitt, so etwa unerwartet lustig; dafür ist vor allem Elmar Wepper in der Hauptrolle zu danken.
Am Abend lief dann noch "Gegenschuss", ein Dokumentarfilm über die Generation der jungen deutschen Filmemacher aus den späten 60ern. Lustige Leute wie Hans W. Geissendörfer, Wim Wenders, Werner Herzog und andere erinnern sich an ihre Jugend und erzählen nach, wie ihre Bewegung, inspiriert von der Nouvelle Vague, plötzlich über das verkrustete deutsche Kino hereinbrach, das bis dahin zwanzig Jahre lang nur Heimatfilme gekannt hatte. Ein interessanter und stellenweise äußerst amüsanter Rückblick, unter anderem mit etlichen Archivaufnahmen von Rainer W. Fassbinder und Ausschnitten aus zahlreichen Filmen von damals. Auch wenn sich Wenders und der Rest der Mitwirkenden und des Teams über ihren eigenen Film selbst am meisten beömmelt haben.

Philip schreibt:
ass die Slums von Brasilien ein Kriegsgebiet sind, das wissen wir wohl. Die Polizei dort ist unterbezahlt und - ausgebildet, schert sich also herzlich wenig und kümmert sich deshalb lieber um das Wohl der eigenen Brieftasche. Der brasilianische Wettbewerbsbeitrag TROPA DE ELITE nimmt sich einer anderen gewichtigen Instanz der dortigen Verbrechensbekämpfung an, einer Spezialeinheit der Polizei, eben jener Elitetruppe, die mit militärischem Drill und ebensolchem Instrumentarium in den Kampf gegen die Drogenbanden zieht. Die Männer dieser Truppe gehen erbarmungslos und brutal an ihr Werk - eine andere Wahl bleibt ihnen auch gar nicht. Anscheinend ist das scharfe Messer mit dem Regisseur José Padilha die brasilianische Exekutive seziert ein Novum für brasilianische Medien und somit äußerst kuragiert. Da ist es natürlich besonders bedauerlich, dass er sein Unterfangen durch ein aufdringliches, bisweilen plumpes und quasi immer präsentes Off-Kommentar seines Protagonisten verwässert. Umso mehr noch schade, da sein Film inszenatorisch und vor allem visuell durch seine Kompromisslosigkeit sehr viel zu bieten hat.
Gerade dieser Punkt (aber nicht alleine) setzt ihn in deutlichen Kontrast zum zweiten Wettbewerbsfilm des Tages, dem ersten von zwei deutschen Beiträgen, HANAMI - KIRSCHBLÜTEN, von niemand geringerem als Doris Dörrie. Wieder einmal fröhnt sie ihrer anscheinenden Liebe für die japanische Kultur und schickt Elmar Wepper als Witwer ins ferne Tokio, dass er so - zumindest posthum - den Lebenstraum seiner Ehefrau erfüllen kann. Zugegeben, ich hatte im Vorfeld äußerst geringe Erwartungen und war dann doch angenehm überrascht über den sanften Unterhaltungswert des Films. Besonders Wepper als störrischer Bayer vom Dorf sorgt für gute Laune und viel Herz. Visuell bleibt der Film allerdings auf Fernsehniveau, alleine die erstaunliche Schärfe und die satten Farben des HD-Materials wiegen positiv.
Schön also, dass dann just der dritte Film des Tages, ebenfalls aus dem Wettbewerb, wieder herrlich stilisiert daherkommt: die Rede ist von SPARROW von Johnny To aus Hongkong. In angenehm gutgelaunter Manier erzählt der Film die Geschichte einer Truppe von sympathischen Taschendieben, die sich - durch die Begegnung mit einer bezaubernden wie mysteriösen Schönheit - bald schon in einem Duell mit einer rivalisierenden Bande wiederfindet. Besonders Beginn und Ende sind herausragend: das erste Drittel ist ein Testament an die Machtlosigkeit mit der wir Männer der Frauenwelt ausgeliefert sind, während das Ende besonders durch jenes großartig inszenierte Duell strahlt, ein gut zehnminütiges Taschendiebsballett in einer regennassen Nacht. Es ist wohl herzlos, wer hier nicht mit einem breiten Grinsen wieder aus dem Kinosaal kommt.
Genau das tat ich übrigens - nur wenige Stunden später - gleich ein zweites Mal. Bei einem anderen Film und wohl aus leicht verschiedenen Gründen. Schuld war der in der Panorama-Reihe zu sehende JERUSALEMA aus Südafrika, ein Film so herrlich kraftvoll, dass man sich zwingend toll fühlen musste, auch wenn Stoff und Film tatsächlich eher düster waren. JERUSALEMA ist nämlich ein knallhartes Drama, beziehungsweise genauer: ein Gangsterepos aus den Slums von Johannesburg. Darin verfolgen wir, ganz genretypisch, den steinigen Aufstieg eines kleinen Jungen aus den Townships zu einem mächtigen Verbrecher. Regisseur und Darsteller bekamen im Anschluss der Vorführung einen herzlichen Applaus vom Publikum - und das vollkommen verdient. Berichtet wurde beim Q&A dann übrigens noch, dass der Film komplett vor Ort in Townships und Slums gedreht wurde, was ihn ob des Risikos noch herausragender macht.

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