Berlinale 2008 - 3. Tag: Akoholkrank vom kälteren Sibirien bis ins kalte Kanada

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Philip schreibt:
Im Laufe des Samstags bin ich weit gereist, aber am Morgen wollte ich zunächst einmal doch noch in Deutschland verweilen. Genauer: in Hamburg. Genauer: im Hamburger Ghetto. Genauer: im Kleinkriminellendrama CHIKO, einem von zwei deutschen Panorama-Beiträgen. Der junge Türke Chiko (Dennis Moschitto) hat eine klare Vision - er möchte im heimischen Drogenhandel ganz oben in der Nahrungskette stehen. Unterstützt von zwei Freunden riskiert er also alles und erfordert eine Audienz beim herrschenden Drogen-Kingpin, dem Musikproduzenten Brownie (Moritz Bleibtreu). Der ist beeindruckt von Chikos Hartnäckigkeit und gibt ihm eine Chance. Doch nach dem Hochmut kommt der Fall und Chikos Achillesferse ist sein labiler Busenkumpel Tibet. Doch trotz gelungener Momente, starker Figuren und der Produktion durch Fatih Akin ist Özgür Yildrims Film CHIKO am Ende leider doch nicht KURZ UND SCHMERZLOS genug.
Definitiv schmerzlos hingegen ist die Geschichte um die kalifornische Alkoholikerin JULIA (Tilda Swinton). Tag ein Tag aus trinkt sie sich in fremde Betten, könnte aber wohl ganz gut damit leben, wenn ihr nicht das Geld eben dazu fehlen würde. Bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker lernt sie widerwillig eine Nachbarin aus ihrem Wohnblock kennen, eine junge, eher verwirrte mexikanische Frau, der wegen ihrer Trunksucht vor vielen Jahren das Sorgerecht für den Sohn entzogen wurde. In schier nicht vorhandener Menschenkenntnis bittet diese ausgerechnet Julia um Hilfe bei der Entführung des Kindes. Selbstredend: so einiges wird schieflaufen. Erstaunlich am Film JULIA ist wie mutig und zugleich vergnügt der Französische Regisseur Erick Zonca die alkoholverklärte Skrupellosigkeit seiner Protagonistin ausspielt. Was zu Beginn des Films noch nicht wirklich klar ist: JULIA ist eher Komödie denn Drama. Dass der Film aber doch auch einige unfreiwillige Lacher erntet, dürfte wohl ein Hinweis sein, dass sich Zonca damit leider etwas zu viel vorgenommen hatte...
Von Kalifornien ins tiefste Asien, auf den Transsibirischen Express. TRANSSIBERIAN wirkt wie der eiskalte Gegenentwurf zu Wes Andersons kunterbunten THE DARJEELING LIMITED. Das amerikanische Touristenpaar Roy und Jessie (ein viel zu überdrehter Woody Harrelson und eine dafür entschädigende Emily Mortimer) entscheidet sich nach längerem Aufenthalt in China zu einer langsameren Rückreise per Bahn quer durch das weiße sibirische Ödland. An Bord treffen sie auf ein weiteres Touristenpaar: Carlos, spanisch & mysteriös und seine junge Freundin Abby, amerikanisch & still. Schnell freundet man sich an, doch erst als es schon zu spät ist merken Roy und Jessie, dass ihre neuen Freunde von einer viel kriminelleren Agenda getrieben sind. Regisseur Brad Anderssons TRANSSIBERIAN liest sich auf dem Papier wie ein spannender Genrefilm, schmeichelt auf der Leinwand auch tatsächlich den Augen, enttäuscht Herz und Verstand aber letztendlich durch die an den Haaren herbeigezogenen Wendungen und aufgesetzten Gewissensfragen.
Zum Abend hin wurde mein Programm dann dokumentarischer, ... quasi... dokumentarisch. Soll heißen: Dokumentarfilme. SHARON, man ahnt es sicherlich schon, erzählt die Geschichte vom israelischen Premier Ariel Sharon. Herausragend sind die persönlichen Einblicke in Sharons Denken und Arbeiten (der Filmemacher begleitete ihn über den Zeitraum einiger Jahre mit der Kamera) und die hochrangigen Interviewpartner, die von allen wichtigen israelischen Entscheidungsträgern über unseren Joschka Fischer bis hin zu seinem amerikanischen Gegenstück Condi reichen. Einen schaalen Geschmack hinterließ der Film aber trotzdem: das Portrait war zwar durchaus vielschichtig, aber viele kritischen Facetten aus Scharons Biographie werden ausgelassen. Trotzdem: als Dokumentation über die Entstehung weitreichender bis weltpolitischer Entscheidungen eines mächtigen Mannes überzeugt SHARON auf ganzer Linie.
Von diesen vielen Filmen - auch nicht von den an den Vortagen gesehenen und wahrscheinlich auch nicht von den noch bevorstehenden - wird mich aber wohl keiner so lange begleiten wie das ... ja... "Doublefeature" das für mich den Abend beschloss: GREEN PORNO / MY WINNIPEG. Fangen wir vorne an. GREEN PORNO ist eine Sammlung von acht einminütigen Kurzfilmen, die das Regiedebüt von Isabella Rosselini bilden. Eigentlich fürs Handy und iPod-Format produziert, durften wir drei dieser Filme zum Einstieg auf der großen Leinwand sehen. In diesen wunderbaren Miniaturen (in jedem nur vorstellbaren Sinne) erzählt und spielt Rosselini das Sexualleben jeweils einer Insektenspezies, seien es Stubenfliegen, Schnecken oder Spinnen. Durchaus lehrreich, charmant und mit viel Witz, Verstand und Herz! Großartig!
...und perfekt um das Publikum in Stimmung zu bringen für MY WINNIPEG, der ersten Dokumentation des kanadischen Independent-Filmemachers Guy Maddin. Ganz ehrlich: mir fehlt selbst in Ansätzen das poetische Vokabular um diesem Film gerecht zu werden! Maddin hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einen Film über seine verschneite Heimat Winnipeg zu drehen. Ein verträumtes Portrait sollte es werden und das ist ihm im wahrsten Sinne des Wortes gelungen. In grobkörnigem, unscharfem und ständig bewegten schwarz-weiß Bildern schildert er seine ganz persönlichen Eindrücke und verwebt diese mit Kindheitserinnerungen, Nachinszenierungen, Archivmaterial, sublimen Textblenden ... ach! Winnipeg, Winnipeg, du kalte Stadt von dem goldenen Jungen gekrönt! Ich bin sprachlos. Noch immer. Wenn sich die Chance ergeben sollte: unbedingt anschauen!!!

Näh, ... das klingt nach nichts. Vielleicht schaffe ich es ja in den nächsten Tagen noch klarere Worte für MY WINNIPEG zu finden. Einfach noch mal vorbeischauen!

Sven schreibt:
Zunächst möchte ich bemerken: ich finde es unerhört - das wollte ich schon gestern loswerden - dass hier vor den Pressevorführungen kein Kaffee gereicht wird.
Der Tag begann dann heute ermüdend mit dem mexikanischen Wettbewerbsbeitrag "Lake Tahoe". Die Geschichte um einen Jungen, der eigentlich bloß Hilfe für sein gegen einen Strommast gesetztes Auto sucht und dabei auf eine aberwitzige Odyssee gerät: an sich eine gute Idee, teilweise sogar tatsächlich lustig. Aber dann musste alles am Film angesrengt auf Arthouse gebürstet werden und jede Einstellung prinzipiell zwei Minuten dauern, und das nervt - und so wird die Idee für einen witzigen Kurzfilm verschenkt zugunsten eines gewollten und langweiligen Wettbewerbsbeitrags.
"Julia" war da schon aus anderem Holz geschnitzt, eine US-amerikanische Produktion, inszeniert vom französischen Regisseur Erick Zonca. Tilda Swinton in der Titelrolle zieht vom Leder als abgetakelte Alkoholikerin in Geldnöten, die sich auf einen abenteuerlichen Coup einlässt: sie will einer gleichfalls alkoholabhängigen Mexikanerin helfen, ihren Sohn zu kidnappen, den man ihr weggenommen hat - und daraus eigennützig Kapital zu schlagen. Ob man dafür unbedingt 138 Minuten brauchen muss, sei einmal dahingestellt, jedenfalls geht es hier mal ein bisschen zur Sache. Obwohl sowohl handwerklich wie vom Skript her nichts Meisterliches, unterhält der abgedrehte Thriller recht gut.
Der dritte und letzte Wettbewerbsbeitrag heute, "Gardens Of The Night", war da ein zwiespältigerer Fall. Im Alter von acht Jahren wird da ein Mädchen von einem Kinderschänder entführt und vermietet - und sie verbringt schließlich ihre gesamte Jugend in der Rotlichtszene, im Glauben, ihre Eltern seien tot. Die packende Schilderung vor allem der ersten Hälfte vom Film geht einem gut an die Nieren; nach einem plötzlichen Zeitsprung inklusive einiger Unklarheiten folgt dann ein keinesfalls herausstechendes Milieuportrait, und John Malkovich spielt einen Solzialarbeiter. Vielleicht zu sehr gleichzeitig gutgemeint und aufrüttelnwollend.
Ohne Zweifel der Höhepunkt des Tages aber war die Weltpremiere von "Chiko": diese deutsche Variante von "Scarface", gelaufen in der Sparte "Panorama", wurde u. a. von Fatih Akin produziert. Denis Moschitto spielt den Titelcharakter, einen ehrgeizigen jungen Grasticker, der zum großen Fisch aufsteigen will und es im Dienst des Grossdealers Brownie (Moritz Bleibtreu) zu Vermögen bringt - statt mit "korrektem Ott" nun mit Koks. "Chiko" ist ein Film, wie man ihn in Deutschland für kaum vorstellbar halten könnte: ein geradliniger, stringenter und gut gespielter Gangsterfilm, in dem es obendrein auch mal ganz orntlich zur Sache geht - gut einfach.
Als Absacker dann noch die Europapremiere von "Transsiberian" mitgenommen. In Brad Andersons neuem Film fahren Emily Mortimer und Woody Harrelson als nettes US-amerikanisches Ehepaar mit der berühmten transsibirischen Eisenbahn nach Moskau - und bekommen es an Bord wider Willen mit einem zwielichtigen Pärchen und zwei russischen Ermittlern (Ben Kingsley und Thomas Kretschmann) zu tun. Der stimmungsvolle und bildstarke Thriller ist zwar mit Verlaub recht hanebüchen, aber immerhin: der Anblick von Kate Mara auf der Leinwand und von Ben Kingsleys Pläte im Publikum waren den Besuch wert.

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